Green IT trifft ITSM

Nahverkehr as a Service

29. Juni 2011, 6:00 Uhr | Dr. Wilhelm Greiner

Immer mehr Menschen leben in Städten oder in den Einzugsbereichen der Ballungszentren. Deshalb ist die IT-gestützte Optimierung der Verkehrsflüsse und Verkehrsinfrastruktur gerade in Ballungsräumen ein wichtiger Aspekt umweltfreundlicher IT-Nutzung, im Rahmen des vorletzten Hypes "Green IT" genannt. Ein nachhaltiger Öffentlicher Personen-Nahverkehr (ÖPNV) muss aber nicht nur IT-gestützt funktionieren, sondern setzt auch ein effizientes IT-Service-Management (ITSM) voraus.Im Rahmen der jüngst ausgerufenen "Nationalen Plattform Elektromobilität" (NPE) verfolgt die Bundesregierung mit Unterstützung der Automobilindustrie das Ziel, bis 2020 eine Million Elektroautos auf Deutschlands Straßen zu bringen. Denn das Programm ist auf die Fortschreibung ressourcen- und energieaufwändiger Individualmobilität fixiert, ohne je die Frage zu stellen, ob diese überhaupt noch zeitgemäß ist. Man setzt Elektromobilität mit "grüner" Fortbewegung gleich und ignoriert, dass Elektroautos höchstens so "grün" sein können wie der Strom, die sie tanken. Gerne kehrt man auch die Frage der "grauen? (für Produktion, Logistik und Entsorgung aufzubringenden) Energie unter den Tisch - denn hier schneiden PKW generell schlecht ab. Deshalb sollte man den Blick künftig verstärkt auf Fortbewegungsmittel auch jenseits des privaten Autos richten, so auch auf die Bahn und den ÖPNV.

Um von Autofahrern als echte Alternative zum PKW wahr- und ernstgenommen zu werden, müsste der Nahverkehr aber weit mehr bieten als ein dichtes Streckennetz, eine hohe Taktrate der Verkehrsmittel und die Absicherung der Bahnhöfe vor randalierenden Schlägern. Um mit dem PKW konkurrieren zu können, muss der Nahverkehr nicht nur praktischer und preiswerter als das eigene Auto sein, sondern zudem ein schickes Lifestyle-Image transportieren - angesichts des Status quo im Nahverkehr ein sehr hehres Ziel.

Vor diesem Hintergrund sind drei Faktoren gefordert, die möglichst gut ineinandergreifen müssen: eine klare Kundenorientierung, umfassend an ITSM Best Practices wie ITILv3 ausgerichtete Service-Prozesse sowie eine GPS-gestützte Echtzeitanalyse der Verkehrsströme. Werfen wir also einen Blick in unsere Nahverkehrs-Glaskugel, um einen Eindruck zu erhalten, wie ein ITSM-gestützter Nahverkehr zukünftig aussehen könnte.

Fahrt durch die Glaskugel

Wir schreiben das Jahr 2016: Nahverkehrskunde Peter Pendelmann zückt am Arbeitsplatz sein Smartphone, um die App seines ÖPNV-Anbieters aufzurufen. Dank GPS weiß sein Smartphone, wo er sich gerade aufhält. So gibt er nur die gewünschte Abreisezeit ein, nennt als Ziel "zu Hause" (der Ort ist in seinem persönlichen Einstellungen hinterlegt) und wählt als Service-Klasse statt der preiswerten Klasse 2 angesichts des regnerischen Wetters die teurere, aber bequemere Service-Klasse 1: Hier muss er nur möglichst selten umsteigen, und der maximale Fußweg beträgt 50 statt der sonst üblichen 200 Meter.

Fünf Minuten vor seinem gewählten Abreisezeitpunkt gibt die ÖPNV-Applikation ihm per Multimedianachricht Bescheid, dass es nun losgeht. Die optimale Route hat die Applikation nicht nur anhand der Streckenführung, sondern auch mittels Auswertung der aktuellen Verkehrslage berechnet. So erfährt der Kunde, dass er aufgrund eines Verkehrsunfalls heute besser nicht den Bus nimmt, sondern eine Straßenbahn wählt. Alle relevanten Daten und Wegstrecken sieht er auf seinem Iphone 11 anschaulich aufbereitet. Da sich der durch einen Unfall hervorgerufener Stau inzwischen wieder aufgelöst hat, dirigiert die App den Kunden noch auf der ersten Teilstrecke um, sodass er dynamisch auf die gerade optimale Route umschwenken kann.

Seine gewünschten Nahverkehrs-Services und persönlichen Einstellungen kann Peter Pendelmann über ein übersichtliches Service-Portal jederzeit erfassen, ergänzen oder ändern. Hier wählt er die möglichen Verkehrsmittel (zum Beispiel, ob auch ein Taxi, Call-a-Bike-Fahrrad oder eine Mitfahrzentrale in Frage kommen), legt Präferenzen wie "maximaler Fußweg" oder "behindertengerecht" fest und kann Zusatz-Services wie zum Beispiel den Transport erster Klasse bei Überfüllung der Verkehrsmittel in Stoßzeiten hinzubuchen. Hier sucht er sich auch aus, ob seine Zahlungen im Abonnement oder nach tatsächlich gefahrener Strecke erfolgen sollen. Da die Applikation selbstlernend ist, merkt sie sich nicht nur Pendelmanns häufig eingegebenen Fahrtziele, sondern schlägt ihm aufgrund seiner Fahrthistorie die vermutlich bevorzugten Optionen automatisch vor.

Pendelmann kann jederzeit seine Route oder Präferenzen ändern und Feedback zur Qualität der Services geben. Die Applikation erfasst, wie umweltfreundlich sein Fahrverhalten ist, und weist ihm dafür automatisch Bonuspunkte zu. Peter Pendelmann hat bereits den Status "froschgrün" erreicht und kann sich am Monatsende aussuchen, ob er die erhaltenen Bonuspunkte für Fahrpreisrabatte nutzt oder lieber Einkaufsgutscheine erhält.

Damit eine solche Nahverkehrsapplikation der Zukunft einigermaßen reibungsarm funktionieren kann, ist eine ganze Reihe von ITSM-Prozessen erforderlich, die im Hintergrund nahtlos zusammenspielen müssen: Der erwähnte Service-Katalog erfordert ein konsequent strukturiertes Service-Request-Management, Störungen im Fahrplanablauf wollen zeitnah durch ein effizientes Incident-Management und die Ursachen im Rahmen des Problem-Managements behoben sein. Der Bestand verfügbarer Verkehrsmittel und Fahrzeuge ist in einem ausgereiften Asset-Management zu verwalten etc. Hinzu kommt, dass die Echtzeiteinbindung von Geolokationsdaten - auch für U-Bahnen - zwingend erforderlich ist.

Problematisch für die ÖPNV-Betreiber dürfte an diesem fiktiven Szenario nicht nur das geforderte extrem hohe Maß an Kundenorientierung sein, sondern auch die Erkenntnis, dass der Service nicht allein im Transport von Punkt A zu Punkt B besteht. Vielmehr setzt dieses Szenario voraus, dass sich der Verkehrsbetrieb zum Anbieter IT-gestützter Echtzeit-Logistik-Services weiterentwickelt: zum Nahverkehrs-Service-Provider.

Erste Schritte in diese Richtung hat die Deutsche Bahn mit ihrem Angebot "Touch & Travel" bereits getan, das sie in Zusammenarbeit mit Vodafone, O2 und der Telekom in Berlin in einem Pilotprojekt betreibt. Hier kann der Kunde bereits über eine Smartphone-App, erhältlich für das Iphone und seit Kurzem auch für Android, in den Zugverkehr einchecken und Tickets ordern. Nur wenn weitere Schritte dieser Art folgen und deutschlandweit verfügbar werden, hat der Nahverkehr eine Chance, sich als klimafreundliche und damit im doppelen Wortsinn "coole" Alternative zur Individualmobilität zu präsentieren.

Diskussion auf LANline.de

Im Vorfeld dieses Schwerpunkts habe ich im Forum auf LANline.de eine Diskussion zum Thema angestoßen. Die LANline-Community war gebeten, Input zu den Anforderungen bezüglich Usability (Bedienbarkeit), ITSM-Prozessen und IT-Infrastruktur zu geben - und die Diskussion hat sich lebhaft entwickelt.

Vor dem Hintergrund immer wieder spürbarer Skepsis bezüglich der Kompetenz der Verkehrsbetriebe erregten insbesondere Fragen zu den Apps und den Kosten die Gemüter. Markus Wenzel von Consol (auf LANline.de: mwenzel) verwies auf bereits existierende Software-Tools: So wolle er seine Iphone-App für die Anzeige des Münchner S-Bahn-Plans inklusive Live-Informationen nicht mehr missen. Auch im Flugverkehr seien unter www.flightradar24.com Echtzeitanzeigen der Verkehrsmittel bereits umgesetzt.

Der LANline-Stammautor Frank-Michael Schlede hingegen problematisierte die "Finanzierung eines solchen Systems, damit es dann auch wirklich auf allen Endgeräten und nicht nur wieder fürs Iphone entwickelt wird". Er befürchtet "noch viel größere Probleme bei den Nahverkehrsbetrieben, die benötigten Informationen zeitgerecht zu bekommen und bereitzustellen". Heute wisse ein ÖPNV-Betreiber schließlich nicht einmal, wann ein Verkehrsmittel nach einem Störfall wirklich ankommen wird. Seine Folgerung: "Diese Killerapplikation wird ein frommer Wunsch bleiben."

Von einer klaren ITSM-Orientierung erwartet Thomas Bär (BÄR) den Brückenschlag zwischen Wirtschaftlichkeit und Nachhaltigkeit: ITSM biete die Möglichkeit, "ökonomisch effektive Entscheidungen zu treffen - der ökologische Aspekt folgt quasi automatisiert." Doch umweltfreundliche Technik, so Frank-Michael Schlede, sei leider nur gegen Aufpreis zu haben: "Ich persönlich bin bereit, für sichere und umweltverträgliche Technologie mehr zu zahlen - aber sind das ( ?) alle Nutzer öffentlicher Verkehrsmittel?"

Das skizzierte Konzept stellt sehr hohe Ansprüche an die schnelle Verfügbarkeit zahlreicher Informationen. Deshalb betonte caspary (Rudolf Caspary von Realtech) die Notwendigkeit der "Durchgängigkeit der Daten und der anschließenden IT-Verarbeitung dieser Daten". Dies scheitere im Moment an der Vielzahl von Anbietern und Verantwortlichkeiten, mangelnder Kenntnis der Anbieter über die Standorte, Belegungen und typische freie Kapazitäten sowie am Fehlen eines anbieterübergreifenden Informationsaustauschs. Als wichtigen ersten Schritt empfiehlt er "ein offenes Format für Fahrpläne im Internet", das als Web-Service alle Beteiligten verknüpfen könnte. Doch er orakelt: "Ohne Mithilfe des Gesetzgebers läuft hier nichts" - ein sicher nicht unberechtigter Vorbehalt.

Auf die kritische Frage der Prozessreife lenkte der User tboch den Blick: "Bevor ein Unternehmen eine solche ( ?) Anwendung in die Hände ihrer Kunden legt, sollte es zunächst kritisch prüfen, ob der Reifegrad im IT-Betrieb für einen solchen Sprung überhaupt ausreicht" kommentierte er. "Die Herausforderungen sind vielfältig: Datenqualität, Performanz, Zuverlässigkeit und Handhabbarkeit - um nur einige zu nennen. Robuste Integration der relevanten Systeme und Überwachung der Prozesse sowie der Datenversorgung sind sicher unter den wesentlichen Aufgabenstellungen." Zudem erfordere der Weg "vom Server-Raum in das Schaufenster" von allen Mitarbeitern auf Anbieterseite ein neues Rollenverständnis - "vielleicht das größte Risiko an einem solchen Vorhaben."

Wie wichtig ein solcher Wandel hin zu einer Service-Kultur ist, war in der LANline schon wiederholt Thema. Die Benutzerin Froggy (Christine Siepe von Materna) ergänzte, es müsse, "ein Monitoring durchgeführt werden, beispielsweise zu den folgenden Fragen: Welches Verkehrsaufkommen herrscht auf welchen Strecken? Wie ausgelastet sind die Systeme beziehungsweise Fahrzeuge? Wie pünktlich sind die Fahrzeuge etc.?" Dies aber erfordere zunächst einmal Lösungen für Discovery und Asset-Management.

Hans-Peter Schernhammer von COC (hpschernhammer) schließlich verlagerte die Perspektive vom ÖPNV zum einzelnen Anwender und forderte eine "Personal Navigator App": Er sieht die Zukunft in einer übergreifenden Applikation, "welche sämtliche Verkehrsmittel einbindet. Also (sowohl) zu Fuß, mit dem Fahrrad, mit dem Call-a-bike ( ?), dem ÖPNV und der Bahn, als auch mit Taxi, Motorrad und eben auch (dem) PKW." Daran koppeln würde er die "Darstellung des ökologischen und ökonomischen Mehrwerts", "Bonus-Systeme wie Green-Points oder Health-Points" (was im oben entworfenen Szenario aufgegriffen wurde) sowie "eine ganzheitliche Kostenauflistung". Die Datenauswertung müsse "nachweislich komplett anonymisiert erfolgen". In der Tat ist es angesichts der diversen Datenschutzskandale in letzter Zeit fraglich, ob Fahrgäste einem ÖPNV-Betreiber ihre Aufenthaltsdaten und deren komplette Historie anvertrauen wollen.

Fazit

Ein konsequent ITSM- und GPS-Daten-gestützter Bahn- und Nahverkehr könnte den Fahrgästen wie auch der Umwelt zahlreiche Vorteile bieten. Doch der Weg dorthin ist aufgrund zahlreicher Herausforderungen sehr steinig. Bahnverkehr aber ist für steinige Streckenführung nur dann geeignet, wenn es sich bei diesen Steinen um ein stabiles Schotterfundament handelt, nicht um organisatorische und technische Felsbrocken. Und so ist der Bahnfahrer von heute schon froh, wenn er halbwegs pünktlich ankommt und bis dahin die Klimaanlage seines Zugs nicht schon bei 30 Grad Außentemperatur den Dienst quittiert. Unserem fiktiven Ideal-Nahverkehr bleibt nur der Trost, zumindest die Vorteile von ITSM veranschaulicht zu haben.

Wer mitdiskutieren will, findet den Diskussions-Thread unter bit.ly/LANline-nahverkehr.

Der Autor auf LANline.de: wgreiner

Mit "Touch & Travel" bietet die Deutsche Bahn eine Iphone-App für den Fahrkartenerwerb im Berliner Nahverkehr.

Die Automobilindustrie will sich mit Elektromobilen von ihrer "grünen" Seite zeigen. Sinnvolle Alternativen wie ein IT- und ITSM-gestützter Schienenverkehr geraten viel zu schnell aus dem Blick. Bild: Daimler
LANline.

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