Public Cloud

Alter IT-Silo im neuen Gewand

19. März 2020, 7:00 Uhr | Dr. Markus Pleier

Kaum zu glauben, aber es ist bald siebzehn Jahre her, dass Nicolas Carr seine These zur "Commoditisierung" der IT veröffentlicht hat. Seither hat es einige große IT-Trends gegeben, die diese These zu widerlegen scheinen, darunter die Public Cloud. Doch die These ist größer als ein einzelner Trend - was sich bei einer detaillierten Betrachtung zum Beispiel daran ablesen lässt, dass die Public Cloud zu einem neuen Silo zu werden droht.

"Offen gesagt sollte IT-Management langweilig werden", resümierte Carr damals. Der Schlüssel zum Erfolg liege für die überwiegende Mehrheit der Unternehmen darin, die Kosten und Risiken der IT akribisch zu managen. Für IT-Verantwortliche bestehe vor diesem Hintergrund die Herausforderung darin, sich diesem disziplinierten Vorgehen dauerhaft zu unterwerfen, selbst dann, wenn alle wieder in das Lied über den strategischen Wert der IT einstimmten. Soweit das Fazit von Carr in seinem berühmten Aufsatz im Harvard Business Review [1].

In Zeiten von Cloud, IoT und Digitalisierung könnten seine Schlussfolgerungen kaum aus der Zeit gefallener erscheinen. Und doch lohnt es sich, einen genaueren Blick auf die damalige Argumentation zu werfen. Carr betrachtet die Rolle der IT weniger unter technischen als ökonomischen Gesichtspunkten. Und einen Wettbewerbsvorteil mit nennenswerten Margen und Gewinnaussichten gewährt eine Technologie nur so lange, wie sie nicht allgemein verfügbar, sondern "knapp" ist. Solange nur wenige Firmen Zugang zu einer neuen Technologie haben, können sie damit gegenüber ihren Konkurrenten Produktivitätsvorteile erzielen oder neue Produkte und Services anbieten.

Die Cloud wandelt sich

Laut Carr winkt der IT das gleiche Schicksal wie der Eisenbahn im 19. Jahrhundert am Ende ihres kometenhaften Aufstiegs. Sie wird Teil der Infrastruktur, ist damit allgegenwärtig und gleichzeitig irgendwie unsichtbar. Sie verursacht hohe Kosten und gefährdet die Wettbewerbsfähigkeit, wenn sie ausfällt, verliert darüber hinaus aber ihren Einfluss auf die Strategie der sie nutzenden und von ihr abhängigen Unternehmen. Irgendwann überwiegen die Risiken sogar die Vorteile. Gelingt es den Infrastrukturanbietern, Monopole oder Oligopole zu bilden, drohen dauerhaft überhöhte Preise - Geld, das unter Umständen für Investitionen in echte Innovationen fehlt.

Die Empfehlungen, die Carr für die Unternehmen hat, lauten deshalb: Weniger für IT ausgeben, abwarten und mehr auf IT-Standards als auf IT-Innovationen setzen, das Augenmerk vermehrt auf die Risiken der IT als auf die damit verbundenen Chancen legen. Das größte Risiko sieht Carr dabei darin, dass die Unternehmen zu viel für ihre IT bezahlen müssen. Betrachtet man die Budgetzwänge, denen CIOs und IT-Leiter seit Jahren unterliegen, sowie die monopolartigen Gewinne der großen IT-Anbieter, lässt sich trotz Digitalisierung nicht mehr rundum behaupten, dass Carr mit seiner Analyse falsch lag. Und doch stimmt es nicht, dass die IT ihren strategischen Stellenwert verloren hätte, im Gegenteil. Wie lässt sich dieser Widerspruch auflösen?

Der Siegeszug der Public Cloud ist kein Zufall. Sie verschafft den Unternehmen einen Grad an Flexibilität, Agilität und Bedienkomfort, wie wir es als Konsumenten seit der Einführung des Smartphones gewohnt sind. Deshalb ist es kein Wunder, dass die Public Cloud sich gerade zur Multi-Cloud weiterentwickelt, da die Unternehmen immer häufiger Services von mehreren verschiedenen Public-Cloud-Anbietern nutzen.

Und doch wandelt sich dieser Trend gerade von innen her. Die Unternehmen lernen immer besser, mit dem neuen Computing-Paradigma umzugehen, sie wissen, dass es einfach ist, in die Public Cloud hineinzugehen, aber aufwendig und unter Umständen teuer, wieder zurückzukehren. Zudem beschäftigen die Entscheider in diesem Zusammenhang Faktoren wie Sicherheit und Compliance. Kurzum: Die Unternehmen können immer besser mit den Chancen wie den Risiken der Public Cloud umgehen.

Der Silo schlägt zurück

Das lässt sich auch an aktuellen Umfrageergebnissen [2] ablesen: So planen drei Viertel der deutschen Unternehmen (76 Prozent), Workloads aus der Public Cloud in das eigene Rechenzentrum zurückzuholen. Gleichzeitig machen die unternehmenseigenen Infrastrukturen einen Wandel durch. Denn fast die Hälfte der deutschen Unternehmen (47 Prozent) planen, sich in den kommenden fünf Jahren vom traditionellen Dreischichtenmodell zu verabschieden. Und noch eine interessante Entwicklung ist zu beobachten: Immer mehr Public-Cloud-Anbieter versuchen, ihre Infrastruktur-Stacks in die Rechenzentren ihrer Kunden zu verpflanzen.

Damit droht sich ein technisch bedingtes, aber gleichzeitig aus der Sicht der Anwender unternehmerisches Risiko der Multi-Cloud in den IT-Umgebungen der Unternehmen festzusetzen: das der IT-Silos. Denn die Infrastruktur-Stacks der verschiedenen Public-Cloud-Angebote sind nicht miteinander kompatibel. Das ist kein Wunder, schließlich haben die Hyperscaler ihre Stacks für ihre eigenen Zwecke und Rechenzentren entwickelt. Hier ist an Carrs Empfehlung zu erinnern, dass die Anwender lieber auf Standards setzen sollten.

Aus Anwendersicht besteht das unternehmerische Interesse darin, die eigenen IT-Umgebungen, die sie immer mehr nach dem Vorbild des Cloud-Paradigmas modernisieren, kompatibel zu machen mit den diversen Public Clouds oder der Multi-Cloud. Sie haben also ein Interesse an einer weiteren Commoditisierung à la Carr. Denn ursprünglich sollte die Public Cloud den Befreiungsschlag aus den Silos der alten IT-Umgebungen in den Rechenzentren der Unternehmen bringen.

Je größer die Bindung jedoch an die spezifische Technologie der diversen Cloud-Anbieter wird und diese Bindung auch in den eigenen Rechenzentren Einzug hält, desto mehr drohen die Silos, in einem neuen Gewand zurückzukehren.

Die Commoditisierung der IT muss also geradezu weitergehen und in einer weiteren Abstrahierung von den verschiedenen Cloud-Stacks bestehen, und zwar auf allen Ebenen, von der Hardware bis zur Virtualisierungsschicht und den Integrationsmöglichkeiten, die diese Stacks jeweils bieten. Das ist die logische Fortsetzung des Trends der vergangenen fünf bis zehn Jahre, der den Infrastruktur-Stack in den Rechenzentren der Unternehmen erfasst hat. Dieser ist immer weniger auf Spezialhardware angewiesen, sondern nutzt preisgünstige Standardhardware, besteht immer vollständiger aus Software, und zwar von der Netzwerk- bis hinauf zur Virtualisierungsebene. Dank Softwaresteuerung wird die Infrastruktur für die IT-Profis immer stärker unsichtbar, weil automatisiert und benutzerfreundlich. All das muss auch für die Infrastruktur-Stacks der Public-Cloud-Anbieter gelten.

Denn die Charakteristika, die Carr in einer "nicht-strategischen" IT sah, verschwinden nicht. Ganz im Gegenteil: Knappheit, Orientierung an Standards und das konsequente Messen der eingesetzten IT-Budgets an Wirtschaftlichkeitserwägungen treten nie in den Hintergrund. Sondern im Gegenteil: In Zeiten der Digitalisierung liegt die Knappheit aus Unternehmenssicht nicht mehr auf der Ebene der Infrastruktur, ob im eigenen Rechenzentrum oder in der Cloud, sondern auf der Ebene der Apps und digitalen Services, die über den Erfolg oder Misserfolg im Wettbewerb entscheiden werden. Aus Unternehmenssicht hat damit auch die "commoditisierte" Infrastruktur einen strategischen Wert. Denn sie erlaubt ihnen, das Potenzial der technologischen Innovationen der vergangenen Jahre auszuschöpfen und zur Entwicklung neuen digitalen geistigen Eigentums zu nutzen.

Commoditisierung gegen Silos

Die Commoditisierung der IT wird weitergehen. Nicolas Carr hat erkannt, dass auch die Informationstechnologie dem Schicksal jeder Branche unterliegt. Allerdings löst sich der Widerspruch zwischen dieser Normalisierung und der fortbestehenden strategischen Bedeutung der IT ab der Sprosse auf der Wertschöpfungsleiter auf, ab der das spezifische geistige Eigentum der Unternehmen ins Spiel kommt - heute also jenseits der Infrastruktur im Rechenzentrum und in der Multi-Cloud. Gerade diese Commoditisierung ist es, die aus den Silos der Vergangenheit befreit.

Quellen

1] Vgl. oben und zum Folgenden Carr, Nicolas G., "IT Doesn?t Matter", in: Harvard Business Review, Mai 2003, abrufbar unter: hbr.org/2003/05/it-doesnt-matter; abgerufen am 23. Januar 2020.

[2] Vgl. Nutanix Enterprise Cloud Index 2019 - How Germany Compares, November 2019.

Dr. Markus Pleier ist Systems Engineering Director Central Europe bei Nutanix, www.nutanix.com.


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