Glosse

Super-Ben versus Googzilla

22. November 2013, 7:55 Uhr | LANline/Dr. Wilhelm Greiner

Internet-Pionier Vint Cerf hat kürzlich Medienberichten zufolge - O.K.: ursprünglich einem einzelnen Tweet zufolge - in einem Workshop der US-Behörde FTC erklärt, die Privatsphäre sei immer schwieriger zu verteidigen und könne gar eine "Anomalie" der Geschichte sein, quasi Nebenwirkung der Moderne.

Diese Äußerung hat schnell virale Verbreitung gefunden und wurde eifrig kommentiert. Natürlich fanden sich auch Interpreten, die der Privatsphäre als bloßer Begleiterscheinung der Urbanisierung im Zeitalter von Google, Facebook und NSA ein baldiges Ende wünschen. Urbanisierung vorbei (es lebt ja auch kaum mehr jemand in Städten heutzutage), willkommen im globalen – und transparenten – digitalen Dorf!

In der Tat lassen sich zahlreiche Beispiele dafür finden, dass in früheren Epochen weniger – oft deutlich weniger – Rückzugsmöglichkeiten ins Private bestanden: das Nostalgie-Retro-Klischee vom Dorfleben, in der jeder alles von jedem weiß; Bauern- und Arbeiterfamilien, die zu wasweißichwievielt in ein bis zwei Zimmern hausen mussten; oder auch das immer wieder gern genommmene Beispiel der Gemeinschaftstoilette im Alten Rom. Private Rückzugsräume waren lange den Reichen und Mächtigen vorbehalten – und vielerorts nicht mal denen.

Man könnte aber auch auf Benjamin Franklin verweisen. Franklin, einer der politischen Vordenker der frühen USA, war Self-Made-Man, Verleger und Herausgeber eines Almanachs mit Lebenshilfetipps und Bauernregeln (à la „The early bird catches the worm“ und was sonst noch interessant ist für alle, die gern exotisch frühstücken). Zudem war er Politiker, als solcher Mitunterzeichner der US-amerikanischen Unabhängigkeitserklärung und auch sonst hauptamtlicher Selberdenker.

Aber den früheren Teil seines Lebens verbrachte Franklin in der hinterletzten Ecke des britischen Empires, wo es noch reichlich rustikal zuging. Quasi Provinz.

Der Alltag des Intellektuellen Franklin bestand hauptsächlich aus Lesen und Schreiben – Tätigkeiten, die beim lokalen Handwerker- und Bauernvolk nicht gerade in hohem Ansehen standen. Deshalb zog der Herr Verleger abends gern die Vorhänge zu, um bei Kerzenschein (mehr oder weniger heimlich) zu lesen und zu schreiben. Tagsüber hingegen – so beschrieb er es zumindest in seiner Autobiografie – schob er schon auch mal eine Schubkarre durch die Gegend, um tatkräftiges, bodenständiges Arbeiten zu simulieren.

Es stellt sich somit die Frage: Wie wäre es dem späteren Vorreiter der US-Demokratie wohl ergangen, hätte er keine Möglichkeit gehabt, Privatsphäre zu erzeugen? Wenn seine Nachbarn ihm ständig hätten über die Schultern schauen können? Wenn seine Suchhistorie in der Bibliothek einsehbar gewesen wäre? Wenn die britischen Behörden über jeden Satz und jede geschauspielerte Schubkarrenbewegung Bescheid gewusst hätten? (Tipp: Die Antwort lautet nicht „NSA-Verhör und No-Flight-List“, gab’s ja alles damals noch nicht. Quasi Überwachungssteinzeit.)

Benjamin Franklin war eine Person des öffentlichen Lebens, und eine Autobiografie zu schreiben war damals eine noch recht neuartige und ungewöhnliche Form des Persönliches-öffentlich-Machens, nicht Symptom eines alltäglichen Exhibitionismus der Prominenten, Halbprominenten, Viertelprominenten und Dummschwafler von der geistigen Hinterbank. Dennoch benötigte – und schuf – die öffentliche Figur Franklin einen privaten Raum, um dort seiner beruflichen und politischen Arbeit in Ruhe nachgehen zu können. Info-Sharing mit allen? Ja, aber kontrolliert.

Also am besten gleich mal „Benjamin Franklin“ googeln und das Gefundene auf Facebook posten! Schließlich war Ben Franklin mit seiner Schubkarre und seiner Autobiografie sozusagen der Urvater der Dauerselbstdarstellung auf Facebook, Foursquare, Instagram und Twitter. Quasi Internet-Pionier.

Franklin half mit, ein neues Land zu gründen, um dann auf dessen 100-Dollar-Note abgebildet zu werden. Mangels Smartphones war es damals noch recht umständlich, Selfies in Umlauf zu bringen. Bild: Wikimedia Commons

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