All-IP-Umstellung für Unternehmen

Zwischen Zweidraht und IPv6

7. Juni 2016, 6:00 Uhr | Bernd Büttner, Director Strategic Marketing bei Bintec Elmeg, www.bintec-elmeg.com./pf

Die Umstellung der ISDN-Netze auf All-IP ist seitens der Deutschen Telekom bereits seit längerer Zeit im Gange. Die Geschäftskunden des Telekommunikationsunternehmens sind seit Frühjahr 2015 an der Reihe, nachdem es in den Jahren zuvor mehrere Millionen Privatkunden umgestellt hat. Das Ziel: Bis 2018 soll alles erledigt sein, so zumindest der Plan.

Wie aus dem letzten Tätigkeitsbericht der Bundesnetzagentur leicht zu erkennen ist, vollzieht auf dem Gesamtmarkt ein zunehmend schnellerer Strukturwandel bei den Technologien der Telefonanschlüsse (Bundesnetzagentur: Tätigkeitsbericht 2014/15, Seite 30ff). Mit Einführung der IP-basierenden Anschlüsse für Geschäftskunden der Deutschen Telekom konnte diese im Verlauf des ersten Jahres diejenigen ISDN-Anschlüsse umstellen, die als sogenannte ISDN-Mehrgeräteanschlüsse in Betrieb waren. Speziell im Geschäftskundenumfeld blieb die Umstellung vorhandener ISDN-Anlagenanschlüsse hin zum sogenannten SIP-Trunk vonseiten der Deutschen Telekom bis dato aus - mangels verfügbarer Angebote.
Im Gegensatz dazu bieten seit einiger Zeit eine Reihe anderer VoIP/SIP-Provider sowie auch alternative, meist auf bestimmte Regionen fokussierte Carrier solche SIP-Trunk-Services für ihre Kunden an. Im weiteren Verlauf dieses Jahres wird auch von der Deutschen Telekom ein SIP-Trunk verfügbar sein, sodass die All-IP-Transformation der Geschäftskunden nicht an Fahrt verliert. Darüber hinaus gibt es für die eine oder andere ISDN-Speziallösung - Stand heute - noch keine echte IP-basierende Alternative, sei es technisch oder auch im Zusammenhang mit rechtlichen Aspekten - Stichwort: Sonderdienste. Es bleibt also noch einiges abzuarbeiten und geeignete Lösungen zu finden.
 
Ab zwei wird es kompliziert
Nach mehr als 25 Jahren ISDN entstehen die ersten Herausforderungen bereits bei den vermeintlich einfachen All-IP-Umstellungen. Angenommen, der Kunde hatte bisher zwei ISDN-Mehrgeräteanschlüsse der Deutschen Telekom mit jeweils sechs MSNs, zugewiesen auf jedem der beiden Anschlüsse. Warum so viele Rufnummern? Weil diese kostenlos waren und gern "gesammelt" und benutzt worden sind. Was bedeutet dies für die All-IP-Umstellung? Sofern der Kunde alle zwölf, oder generell mehr als zehn Rufnummern behalten will, ist er gezwungen, zwei All-IP-Anschlüsse zu betreiben. Dies ist keine Vorgabe der Deutschen Telekom, sondern des Regulierers. Andere Gründe für den Betrieb von mehr als einem All-IP-Anschluss könnten auch schlicht der Bedarf an mehr Bandbreite sein, oder die Anforderung, zukünftig mehr als acht Sprachkanäle bereitzustellen.
Will man alle Endgeräte, alle Sprachkanäle und alle Rufnummern mit einem einzigen Gateway betreiben, so müssen zunächst mindestens zwei WAN/Internet-Zugänge realisiert sein: beispielweise mithilfe eines im Router integrierten und eines über Ethernet extern angeschlossenen xDSL-Modems. Das System erhält somit mehrere öffentliche (externe) IP-Adressen. In dieser Konstellation ergibt sich jedoch ein Routing-Problem für SIP/VoIP. Es liegen zwei Registrierungen auf ein und denselben externen SIP-Registrar vor. Die verschiedenen Registrierungen repräsentieren somit jeweils diejenigen MSNs, die bislang den ISDN-Mehrgeräteanschlüssen zugeordnet waren. Die Endgeräte müssen sich ihrerseits am All-IP-Gateway registrieren, also an dessen LAN-IP-Adresse. Ein korrektes IP-Routing der ein- und ausgehenden Gespräche über mehrere Internet-Anschlüsse zum selben Registrar ist damit nicht mehr ohne Weiteres möglich.
Sofern der Anwender nicht mit Subnetzen/VLANs hantieren will, besteht die Lösung des Problems darin, dass sich die externen SIP-Registrierungen an die jeweiligen WAN-Schnittstellen binden lassen. Damit findet eine eindeutige Zuordnung statt, was Quellen und Ziele der aufzubauenden Gespräche sind. Will oder muss ein Anwender mehrere All-IP-Anschlüsse nutzen, so muss er also bei der Auswahl der Komponenten auf derartige Anwendungsfälle Rücksicht nehmen. Ganz nebenbei: Ist auf den WAN-Anschlüssen zusätzlich IPv6 verfügbar, so würden sich auch mehrere IPv6-Subnetze ergeben.
 
SIP-Nomaden haben immer eine Heimat
Eine All-IP-Infrastruktur für die Applikation Sprache ist in puncto Sprachkanäle gegenüber ISDN deutlich besser skalierbar. Darüber hinaus ist es möglich, jede Rufnummer ortsunabhängig zu nutzen - zumindest theoretisch. Betrachtet man dieses Thema am Beispiel eines "Deutschland-LAN"-Anschlusses der Deutschen Telekom, ist es ratsam, bei einigen Punkten etwas genauer hinzusehen. Grundsätzlich existieren zwei unterschiedliche Arten, um eine Rufnummer zu nutzen beziehungsweise die dazugehörige SIP-Registrierung durchzuführen. Die sogenannte "anonyme Registrierung" benötigt weder einen individuellen Benutzernamen (generischer Benutzername: "anonymous@t-online.de") noch ein Kennwort. Zur Identifizierung dient die entsprechende Rufnummer (Beispiel: "+4991196730"), die der Anwender nutzt.
Das Ganze funktioniert nur an dem dazugehörigen All-IP-Anschluss, ist also ortsgebunden. Will der Anwender die Rufnummer "beweglich" machen, so muss er im Kundencenter eine E-Mail-Adresse und ein Telefoniepasswort einrichten. Damit entstehen - im Gegensatz zur anonymen Registrierung - qualifizierte Registrierungsdaten bestehend aus Benutzername (E-Mail-Adresse) und Kennwort (Telefoniepasswort). Diese "nomadische Registrierung" ermöglicht es zwar, mehr als zehn Rufnummern auf einem Internet-Anschluss zu betreiben, schafft aber nicht die Möglichkeit, die Anzahl der Sprachkanäle zu erweitern.
 
All-IP-Sonderlinge
Eine beliebte Vorgehensweise, um die Abschaltung des ISDN-Anschlusses noch auszusetzen, ist die Argumentation, dass Sonderdienste zum Einsatz kommen. Dazu gehören zum Beispiel Zahlungs-Terminals (EC-Cash), Alarmierungssysteme und das analoge Notruftelefon im Fahrstuhl. Wird eine bestehende ISDN-TK-Anlage mittels eines Media Gateways migriert, so stellt sich zudem schnell die Frage, wie sich dieses System künftig aus der Ferne warten lassen soll, wenn keine direkte ISDN-Einwahlmöglichkeit mehr gegeben ist. Technisch gibt es für solche Fälle eine Reihe von Möglichkeiten, die allerdings im Vorfeld einen erfolgreichen Test erfordern, damit die erwarteten Funktionen tatsächlich gewährleistet sind.
Ein Beispiel dafür ist der Einsatz des "Clear Channel"-Mode, basierend auf RFC 4040. Bei Nutzung dieses Verfahrens werden ISDN-Datenverbindungen (ISDN 64 kBit/s transparent), wie sie zum Beispiel bei ISDN-Anlagen-Fernwartung und auch Cash-Terminals zum Einsatz kommen, in die Nutzdaten der VoIP-Verbindung, also im RTP-Datenstrom, gekapselt. Aus Sicht der beteiligten Systeme bleibt somit alles "beim Alten", das heißt, es lässt sich nach wie vor eine Wählverbindung nutzen, um den Zahlungsvorgang anzustoßen oder die ISDN-Anlage aus der Ferne zu administrieren. Auch dafür gilt es, sorgfältig bei der Auswahl der Komponenten vorzugehen, um keine bösen Überraschungen zu erleben.
 
Sprachqualität und Bandbreitenbedarf
Wenn die VoIP-Sprachqualität vergleichbar gut mit ISDN sein soll, so gilt die Faustformel "100 kBit/s pro Sprachkanal" - bidirektional für Up- und Downstream. Bei der Übertragung über ADSL mit Nutzung des Codecs G.711 (typischer Wert: 20 ms Sprachinformation pro Paket und 50 Pakete pro Sekunde) ergibt sich folgende Rechensituation:
64.000 Bit ÷ 50 Pakete = 1.280 Bit/Paket = 160 Byte/Paket
Um solche Daten als Sprachdaten (VoIP) zu kennzeichnen, benötigt das Paket einen 12 Byte großen RTP-Protokoll-Header. Für den Transport über ein IP-basierendes Ethernet-Netzwerk kommen noch weitere Header hinzu - ein UDP-Header (8 Byte), ein IP-Header (20 Byte) und ein Ethernet-Header (22 Byte) mit CRC-Prüfsumme (4 Byte):
160 + 12 + 8 + 20 + 22 + 4 = 226 Byte
Ein VoIP-Paket ist also in einem Netzwerk 226 Byte groß. Läuft die Übertragung dieser Daten über ADSL, werden die Ethernet-Frames in PPP gekapselt, was zu zusätzlichen 8 Byte und damit insgesamt 234 Byte führt. Bei 50 Paketen pro Sekunde (à 20 ms) ergibt sich somit ein Bandbreitenbedarf von
234 Byte/Paket × 50 Pakete/s × 8 Bit/Byte = 93,6 kBit/s.
Der Codec G.722 (HD-Voice) wiederum, der eine über ISDN hinausgehende, exzellente Sprachqualität liefert, benötigt indes keine höhere Bandbreite. Bei VoIP via VPN jedoch, um beispielsweise Filialnetzwerke zu realisieren, sind zusätzlich bis zu 20 Prozent Overhead-Daten - je nach eingesetzten Hash- und Verschlüsselungsverfahren - für den Bandbreitenbedarf zu berücksichtigen. Auch Parameter wie "Delay" (Verzögerungen bei der Paketzustellung), "Jitter" (Paketlaufzeitunterschiede) und ein vertretbares Maß an "Packet Loss" (Paketverlust) sind für die Sprachqualität relevant. In einem begrenzten Umfang können die auf der Übertragungsstrecke beteiligten Systeme wie Gateways und Endgeräte die genannten Störgrößen teilweise ausgleichen. Eine allzu intensive Nutzung solcher Techniken würde allerdings zulasten des Delays gehen, da ein Jitter Buffer die Pakete vor der Auslieferung sammelt. Paketverluste wiederum, die auf dem Übertragungsweg auftreten, lassen sich bei Verwendung des UDP-Protokolls nicht reparieren.

Beispiel für eine SIP-Registrierung mit Bindung an die WAN-Schnittstelle.

Konfiguration eines VoIP-Gateways mit zwei All-IP-Anschlüssen (im Bild: Bintec Elmeg Be IP).

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