Prozesse vor der IT-gestützten Implementierung systematisch verbessern

Digitalisierung führt nicht zwangsläufig zu smarten Produktionsprozessen

29. Januar 2019, 9:28 Uhr | Von Dr. Jörg Schröper.

"Es gibt nicht Industrie 4.0 schlechthin, sondern nur für jedes Unternehmen eine individuelle Lösung." Und schon gar nicht führe Digitalisierung von selbst zu smarten Produktionsprozessen ohne mediale Brüche. Dies sagt Univ.-Prof. Dr.-Ing. Sigrid Wenzel. Am Fachbereich Maschinenbau der Universität Kassel leitet sie im Institut für Produktionstechnik und Logistik das Fachgebiet Produktionsorganisation und Fabrikplanung. Den Begriff der Digitalisierung verwendet Wenzel nach eigenen Aussagen nicht gern. Sie spricht von digitaler Transformation, da dieser den Veränderungsprozess besser beschreibt. Es gehe nicht um den Einsatz der IT um ihrer selbst willen, sondern um die strukturierte Verbesserung der einzelnen Prozesse in einem umfassenden Gesamtsystem. Erst wenn die bisherigen Prozesse analysiert und hinsichtlich ihrer Verbesserungspotenziale fortentwickelt seien, werden diese neuen Prozesse im Gesamtsystem implementiert und mit IT unterstützt.

Für dieses Vorgehen benötige ein Unternehmen oder eine Verwaltung geeignete Fachleute mit Kenntnissen in Betriebswirtschaft, Informatik und Technik, "die mit allen reden, die Herausforderungen global betrachten, und die jene Aufgaben, die sie daraus ableiten, disziplinübergreifend lösen können". Genau diese Fachleute bilde die Universität an der UNIKIMS gemeinsam mit anderen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern sowie akademisch geschulten Praktikerinnen und Praktikern aus. Die UNIKIMS ist die Management School der Universität Kassel und zuständig für das berufsbegleitende Studium. Mit über 1.200 Studierenden in neun berufsbegleitenden MBA- und Masterstudiengängen zählt sie sich zu den wichtigsten  Institutionen in Deutschland für die universitäre Weiterbildung von Nachwuchs- und Führungskräften.

Henning Wortmann zum Beispiel begann sein Masterstudium im Jahr 2013, drei Jahre nach Beginn der Laufbahn im dualen Verbund von betrieblicher Ausbildung und Maschinenbau-Studium beim Landtechnikhersteller Claas. Im Beruf profitierte Wortmann nach eigenem Bekunden vor allem von den Methoden, die er im Studium an der UNIKIMS erlernte, "von der Herangehensweise und der strategischen Planung. Wenn wir die Zusammenhänge auseinandergenommen haben, etwa im Materialfluss, dann war das super im Alltag anzuwenden. Und die positivste Überraschung war für mich, dass alle, die mit mir in Kassel studierten, schon mehrere Jahre im Beruf waren und ihre Erfahrung von dort mitbrachten. Damit hatte die Vorlesung eine ganz andere Qualität, denn bei theoretischen Ausführungen hat es nie lange gedauert, bis der erste die Hand hob und sagte: ,Das hat bei uns so nicht geklappt. Wir haben das so gelöst.? Das ist etwas ganz anderes, als in einer Gruppe von 20jährigen, die keinerlei praktische Erfahrungen mitbringen." Mit dem Abschluss Master of Science im IPM wechselte Wortmann in die Corporate IT der Claas-Gruppe, wo er sich mit Prozessberatung und Anwendungsentwicklung beschäftigt.

Wenzel beschreibt die betriebliche Wirklichkeit, wie sie diese als Kooperationspartnerin von Unternehmen erlebt: "Es reden zwar fast alle über Digitalisierung und Industrie 4.0, aber längst nicht alle haben ihren optimalen Weg zur Umsetzung gefunden." Einige Unternehmen, vor allem große Konzerne, seien in der Nutzung digitaler Planungsmethoden und der Implementierung von IT-gestützten Prozessen schon sehr weit "Andere Unternehmen kämpfen aber noch mit Datenaustauschformaten und sind eher bei Industrie 2.5.", urteilt Wenzel.

Oft fehle der Blick auf das Ganze. "Es dominiert in vielen Bereichen noch die Einzelbetrachtung", sagt die Professorin. Die Unzufriedenheit wachse, weil irgendein Prozess zu langsam laufe, die Kosten an einer Stelle zu hoch seien oder der Service in einem anderen Segment unbefriedigend sei. Dann werde dieses eine Teilsystem optimiert, und seine Leistung maximiert, aber die Effizienz im Gesamtsystem steige nicht: "Das lokale Optimum führt meistens  nicht zu einem globalen Optimum für die gesamte Fabrik. Nicht jeder Mensch macht sich aber dieses ganzheitliche Denken zu Eigen."

Viele Entscheider glaubten zudem heute noch, sie müssten nur auf den fahrenden IT-Zug in Richtung Digitalisierung und Industrie 4.0 aufspringen und eine Softwarelösung von der Stange kaufen, dann lösten sich die Probleme wie von selbst. Dies sei falsch. Schlechte Prozesse würden nicht dadurch besser, dass sie mit Software unterlegt sind. Im Gegenteil könne die Implementierung einer Software zusätzlich hohe Kosten und Reibungen im Unternehmen verursachen, ohne suboptimale Prozesse zu verbessern. Daher seien die Ist-Prozesse zunächst zu analysieren, um Soll-Prozesse abzuleiten und diese dann digital zu unterstützen.

Dies kann laut Wenzel auch die digitale Vernetzung der Maschinen in der Produktion über sogenannte cyberphysische Systeme umfassen. Dann nehmen die Maschinen über Sensoren Informationen aus der Umwelt auf, die ausgewertet werden, um über Aktoren Aktionen in der Umwelt auszulösen. "Auf diese Weise können auch die Maschinen miteinander kommunizieren", erklärt die Professorin. Die Voraussetzung für Industrie 4.0 ist eine durchgängige digitale Fabrikplanung; die Modelle der digitalen Fabrikplanung sind die Basis für den digitalen Zwilling einer Produktionsanlage.

Der Weg der digitalen Transformation sei allerdings auch durch soziale Barrieren verstellt. Diesen Schluss lege zumindest die Erfahrung der Dozentin nahe: "Wenn wir mit unserem Fachgebiet Prozesse analysieren und mittels digitaler Modelle simulieren, dann schaffen wir Transparenz. Wir decken Planungs- und Systemfehler auf. Finden wir Fehler, besteht bei den Zuständigen oft Angst vor Kritik und Sanktionen. Transparenz soll aber Vertrauen in das System schaffen: Wir müssen Fehler als systemische Fehler erkennen, und sie nicht als persönliche Fehler fehlinterpretieren."

Die Einschätzung, dass durch die digitale Transformation die Arbeit ausgehe, sei so nicht richtig. "Die Arbeit geht uns nicht aus", sagt Wenzel, "sie verändert sich inhaltlich. Routinetätigkeiten werden weniger; Arbeitsinhalte werden kreativer. Veränderungsprozesse müssen permanent gelebt werden, da sich die IT schnell weiterentwickelt, Netzwerke variieren und die Komplexität exponentiell mit der Vernetzung der Systeme wächst."

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Univ.-Prof. Dr.-Ing. Sigrid Wenzel: Es gibt nicht Industrie 4.0 schlechthin, sondern nur für jedes Unternehmen eine individuelle Lösung." Bild: UNIKIMS

Die Zeiten, in denen eine Ausbildung für ein Berufsleben von 40 Jahren ausgereicht habe, seien vorüber: "Das funktioniert nicht mehr, und es betrifft alle Berufe. Wir können beispielsweise Arbeitsabläufe der Buchhaltung eines Unternehmens automatisieren oder das Schweißen durch Schweißroboter durchführen lassen. Die zugehörigen Berufsfelder benötigen dann zukünftig andere oder erweiterte Qualifikationen als heute."

"Auch ich weiß nicht, wie das Aufgabenspektrum einer Hochschullehrerin in 20 Jahren aussehen wird", räumt Wenzel ein: "Aber ungeachtet dessen darf ich als Hochschullehrerin nicht aufhören, Studierende für eine Zukunft auszubilden, die ich nicht vollständig kenne. Wir müssen uns befähigen, die kommenden Veränderungen zu gestalten. Der Mensch wird unersetzlich bleiben. Aber gefordert sind mehr denn je Kreativität, ganzheitliches Denken und die Fähigkeit zur Kommunikation. Die Schere wird sich weiten zwischen jenen, die kreativ, sozial und prozessfähig sind, und jenen, die diese Fähigkeiten nicht haben. Ich sage meinen Studierenden und den Unternehmern: Seid Gestalter der digitalen Transformation. Ich sehe die digitale Transformation als Chance, denn sie verändert die Arbeitswelt zugunsten aller Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, sodass wir viel mehr Möglichkeiten haben, Beruf und Familie miteinander zu vereinbaren und in beiden Bereichen aufgehend zu leben. Diese Chance müssen wir nutzen!"

Weitere Informationen zum Master of Science Industrielles Produktions-Management erhalten Interessierte unter www.unikims.de/ipm. Der Studiengang startet im April 2019 zum neunten Mal.

Dr. Jörg Schröper ist Chefredakteur der LANline.

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