Alien Crosstalk unter der Lupe

Theorie und Messung

4. September 2005, 23:16 Uhr | Prof. Dr. Albrecht M. Oehler, Dr. Dieter W. Schicketanz/jos

Die Übertragung von 10 GBit/s über Kupferkabel gehört zu den derzeit am heftigsten diskutierten Themen. Ein Problem dabei stellt das so genannte Fremdnebensprechen dar, eine prinzipiell unkontrollierbare gegenseitige Störung benachbarter Kabel. Ein Wissenschaftler-Team der Hochschule Reutlingen und aus München hat das Phänomen in Kooperation mit der LANline sowohl unter theoretischen Aspekten als auch mit Messungen untersucht.

Die IEEE in den USA arbeitet unter dem Arbeitstitel IEEE 802.3an an der Normierung der
Datenübertragung von 10 GBit/s über verdrillte Computerverkabelung. Dies bedeutet, dass jedes Paar
einer vierpaarigen Verbindung 2,5 GBit/s bidirektional übertragen soll. Über Lichtwellenleiter ist
diese Übertragung schon fertig entwickelt, ihre Stärken liegen aber mehr im Bereich einiger 100
Meter bis zu Kilometern. In Rechenzentren, wo diese Geschwindigkeiten am ehesten im großen Maßstab
eingesetzt werden sollen, liegen die Entfernungen jedoch vorzugsweise um die 50 Meter. Dies ist
eindeutig die Domäne für Kupfer. Die Fertigstellung der Norm steht für Mitte 2006 an, Produkte
folgen erfahrungsgemäß kurz darauf.

Das Spektrum der Übertragung reicht bis 500 MHz, eine Verkabelung der Klasse F ist deshalb
sofort verwendbar. Die größte Herausforderung bei dieser Übertragung ist das Fremdnebensprechen von
anderen Kabeln, eine Störung die bisher wegen der geringeren Modulationsstufen und Frequenzen keine
signifikante Bedeutung hat. Da aber auch Klasse E dafür genutzt werden soll, entstehen eine
Überarbeitung der internationalen Norm ISO/IEC 11801 und ein "Technischer Report", der die
installierte Verkabelung betrachtet. Ähnliches erfolgt bei Cenelec (www.cenelec.org) mit der Norm
EN 50173-1.

Die folgenden Ausführungen befassen sich mit dem Einfluss des Fremdnebensprechens auf die
Datenübertragung und mit möglichen Maßnahmen, die die Übertragung verbessern. Diese können sowohl
auf theoretischen Betrachtungen wie auch auf konkreten Messungen basieren. Die Aussagen beziehen
sich auf das Übersprechen von ungeschirmten Kategorie-6-Kabeln aufeinander. Bei geschirmten
Verkabelungen mit vorschriftsmäßig aufgelegtem Schirm und einzeln geschirmten Buchsen ist das
Fremdnebensprechen vernachlässigbar. Mehr dazu auch in den Artikeln auf Seite 14 und 26.

Fremdnebensprechen

Fremdnebensprechen (Alien Crosstalk, abgekürzt AXT, wobei das "X" für "Cross" steht) ist das
Übersprechen von fremden Signalkreisen. Da deren Übertragung dem eigenen – also dem gestörten –
Sender und Empfänger nicht bekannt ist, besteht keine Möglichkeit dieses Fremdnebensprechen zu
kompensieren. Bei der Modellierung des Fremdnebensprechens kann man davon ausgehen, dass der
betrachtete Signalkreis von mindestens sechs benachbarten Kabeln, also – bei vierpaarigen Kabeln
von bis zu 24 Signalkreisen – gestört werden kann (Bild 1). Die Grenzwertbestimmung beruht daher
auf der Summe aller Einzelleistungen der möglichen Störkreise (Power Sum, abgekürzt PS).

Der Fachmann unterscheidet zwischen Fremdnebensprechen am nahen Ende und am fernen Ende.
Befinden sich der gestörte Empfänger und der störende Sender auf derselben Seite der Verkabelung,
wird das Ende der Verkabelung als nahes Ende bezeichnet (Near End) und das Nebensprechen
entsprechend Fremdnahnebensprechen (Bild 2 oben). Sitzt der störende Sender am entgegen gesetzten
Ende der Verkabelung, nennt man das betrachtete gestörte Verkabelungsende "fernes Ende" (Far End),
und das Nebensprechen entsprechend Fremdfernnebensprechen.

Das Nahnebensprechen findet bei höheren Frequenzen f innerhalb einer Koppellänge von 20 Metern
statt. Ist der Parallelverlauf der Kabel länger als diese 20 Meter, so ändert sich das
Nahnebensprechen nicht signifikant, wie sich durch Messungen nachweisen lässt. Die
Nahnebensprechdämpfung nimmt wegen statistischer Kopplung der Kreise mit f1,5 zu. Die
logarithmierte Fremdnahnebensprechdämpfung ist als an gekennzeichnet.

Das Fernnebensprechen verhält sich anders, es ist längenabhängig und nimmt linear mit der
Koppellänge zu. Die Fernnebensprechdämpfung nimmt daher proportional zur Koppellänge zu. Außerdem
ist sie proportional zur Einfügedämpfung des Kanals und wegen Kopplung erster Ordnung der Kreise
dem Quadrat der Frequenz [1]. Die logarithmierte Fremdfernnebensprechdämpfung heißt af.

Die Einfügedämpfung (Insertion Loss) wird für die folgenden theoretischen Betrachtungen
proportional zur Länge und zur Wurzel der Frequenz angenommen. Die logarithmierte Einfügedämpfung
bezeichnet der Text mit ai.

Es gibt zwei verschiedene Methoden, um das Fremdnebensprechen zu verringern. Die eine ist eine
Schirmung der Verkabelung. Die Schirmdämpfung reduziert das übergekoppelte Signal, indem dessen
Leistung größtenteils vom Schirm abgeleitet wird. Die andere Möglichkeit ist eine Vergrößerung des
Abstands zwischen Störkreis und Empfangskreis. Dies lässt sich durch einen entsprechenden
Kabelaufbau oder durch eine passende Anordnung der Verkabelung erreichen. Zur Untersuchung der
Abschwächungsmöglichkeiten (Mitigation Techniques) für ungeschirmte Verkabelungen verlegte das
Test-Team zwei Signalkreise, also zwei Kabel, in denen jeweils ein Paar arbeitet, bis zu 100 Meter
parallel und beobachtete die Änderung des Übersprechens, wenn am nahen oder am fernen Ende der
Abstand der Kabel zueinander wächst. Die der Messung zugrunde liegende Methode bezeichnen Fachleute
als "Reißverschlussmethode" (Bild 2, Mitte und unten), und zwar mit der Öffnungslänge Y.

Kanalkapazität

Die drei wesentlichen begrenzenden Größen bei einer gestörten Übertragung sind die
Übertragungsbandbreite des Übertragungskanals fg, die Leistung des Signals und die Leistung des
Störers. Das Verhältnis der Störleistung zur Sendeleistung heißt Signalgeräuschabstand aS/N. Nach
dem Shannonschen Informationstheorem [2] liefern fg und aS/N die maximal übertragbare Datenrate,
die man als Kanalkapazität C bezeichnet. Für einen idealen Tiefpass zeigt Bild 3 links den Verlauf
des Signalgeräuschabstands über der Frequenz. Nimmt man eine Bandbreite fg = 625 MHz und weißes
Rauschen mit einem Signalgeräuschabstand aS/N = 48,2 dB an, so berechnet sich die maximal
übertragbare Datenrate zu C = 10,0 Gbit/s. C ist proportional der Fläche unter der aS/N-Kurve.

Diese maximale Datenrate kann nur dann übertragen werden, wenn die Leitungskodierung auf den
Kanal angepasst ist und die volle Bandbreite und die volle Dynamik ausgeschöpft werden. Ist
beispielsweise die Übertragungsbandbreite fband kleiner als die maximal mögliche Grenzfrequenz fg,
so reduziert sich die Kanalkapazität C entsprechend (Bild 3 rechts). Die Frequenzen sind im
Folgenden in [f] = MHz angegeben, die Dämpfungen in [a] = dB und die Kanalkapazität in [C] =
Bit/s.

Nahes Ende

Zur Untersuchung der maximalen Koppellänge für das Nahnebensprechen erfolgt eine Messung der
Fremdnahnebensprechdämpfung an zwei parallel verlaufenden 100 Meter langen Kabeln, dazu per
Reißverschlussmethode eine Vergrößerung des Abstands der Kabel am fernen Ende. Bild 4 [3] zeigt die
Fremdnahnebensprechdämpfung für 100 MHz und 500 MHz in Abhängigkeit von der Öffnungslänge Y des
Reißverschlusses.

Mit zunehmender Frequenz verringert sich die effektive Koppellänge, so ändert sich die
Nebensprechdämpfung für 100 MHz noch innerhalb von rund 20 Metern, wohingegen für 500 MHz bereits
nach vier Metern keine signifikante Änderung der Nebensprechdämpfung mehr erfolgt. Die effektive
Koppellänge leff beträgt somit zirka zehn Wellenlängen:

leff = 10 · l = 10 · l0 · VK

In dieser Gleichung ist l0 die Vakuumwellenlänge, VK stellt den Verkürzungsfaktor im gewählten
Kabel dar.

Bild 5 zeigt die theoretisch ermittelten Werte der Fremdnahnebensprechdämpfung über der Frequenz
mit der Reißverschlussöffnungslänge Y als Parameter. Es wird deutlich, dass die
Fremdnahnebensprechdämpfung mit zunehmender Öffnungslänge größer, das Nebensprechen also geringer
wird. Dies beruht darauf, dass sich das Signal des Störers zunächst längs des einen Kabels bis zur
Kopplungsstelle zwischen den Kabeln ausbreiten muss und dabei Dämpfung erfährt. Von dort muss sich
das Nebensprechsignal wieder zurück längs des anderen Kabels zum gestörten Empfänger ausbreiten und
erfährt dabei erneut eine Dämpfung. Daher reduziert sich das Nebensprechsignal mit zunehmender
Öffnungslänge.

Messungen bestätigen diesen Sachverhalt. Bild 6 zeigt die in Abhängigkeit von der Öffnungslänge
Y gemessene Nahnebensprechdämpfung [3] im Vergleich mit den theoretisch vorhergesagten Werten.
Dieser Vergleich wurde bei 600 MHz durchgeführt, da dies die höchste zu erwartende Frequenz für
10GBase-T ist.

Fernes Ende

Zur Untersuchung des Fremdfernnebensprechens lässt sich zunächst der Einfluss der Koppellänge
auf das Nebensprechen untersuchen. Bild 7 zeigt die theoretisch ermittelte und die gemessene
Fremdfernnebensprechdämpfung af von eng nebeneinander parallel verlaufenden Kabeln
unterschiedlicher Länge. Die gute Übereinstimmung der Ergebnisse bestätigt das verwendete und im
Abschnitt über das Fremdnebensprechen beschriebene Berechnungsmodell.

Bild 8 zeigt die gemessene Fremdfernnebensprechdämpfung über der Frequenz mit der Öffnungslänge
des Reißverschlusses am fernen Ende als Parameter. Der Einfluss des Auftrennens beider Kabel ist
wesentlich kleiner als am nahen Ende. Dies beruht darauf, dass sich die Koppellänge nur um Y von
100 Meter beispielsweise für Y = 10 Meter auf 90 Meter, also um zehn Prozent reduziert und in allen
Fällen die Einfügedämpfung des Kanals gleich bleibt.

Gleichzeitiges Nebensprechen

Die beiden Fremdnebensprecharten, also das Fremdnahnebensprechen und das Fremdfernnebensprechen,
treten stets gemeinsam auf und begrenzen zusammen die Übertragung. Zur Bestimmung der maximal
übertragbaren Bitrate des Kanals, also der Kanalkapazität C, ist im Duplex-Betrieb – also bei
gleichzeitigem Senden und Empfangen – die Begrenzung beider Nebensprecharten zu
berücksichtigen.

Bild 9 zeigt alle drei relevanten Dämpfungen, die Einfügedämpfung ai, die
Fremd-Nahnebensprechdämpfung an und die Fremdfernnebensprechdämpfung af für zwei 100 Meter parallel
laufende Kabel. Diese drei Dämpfungen werden bei 802.3an als Grenzwerte diskutiert. Die
Fremdnebensprechdämpfungen in den Bildern 4, 6, 7 und 8 sind höher, da es sich bei den gemessenen
Werten um das Übersprechen von nur einem Signalkreis, also nur einer Störquelle, handelt und die
folgenden Abbildungen die Grenzwerte für die leistungssummierte Übersprechdämpfung wiedergeben. Aus
dem Verlauf lässt sich ablesen, dass die Kanalkapazität, die proportional zur eingegrenzten Fläche
ist, von allen drei Dämpfungen bestimmt wird.

Für niederere Frequenzen dominiert das Fremdfernnebensprechen, für höhere das
Fremdnahnebensprechen. Die Kanalkapazität dieses Kanals ist daher geringer als die Kanalkapazität,
wenn die Begrenzung nur durch das Fremdnahnebensprechen hervorgerufen würde.

Bild 10 zeigt die entsprechenden Dämpfungen, wenn das System am nahen Ende zehn Meter weit
aufgetrennt ist. Die Fremdfernnebensprechdämpfung verändert sich unwesentlich, die
Fremdnahnebensprechdämpfung dagegen deutlich. Die Kanalkapazität nimmt stark zu. Dies setzt jedoch
voraus, dass der gesamte Frequenzbereich ausgenutzt wird, also alle Frequenzen bis zu fg, bei der
die Einfügedämpfung dieselbe Größe wie die Fremdnebensprechdämpfung erreicht.

Ist die maximale Übertragungsfrequenz jedoch durch die aktiven Komponenten begrenzt – in der
Regel ist das der Fall -, so fällt die Verbesserung der Kanalkapazität beim Auftrennen der Kabel
deutlich geringer aus. Dies ist auch in Bild 11 ersichtlich. Dort sieht man eine drastische
Erhöhung der Kanalkapazität auf Grund der räumlichen Trennung des Störkreises vom anderen
Signalkreis (rote Kurve für 50 Meter lange Kanäle und blaue Kurve für 100 Meter lange Kanäle).

Diese Erhöhung der Kanalkapazität basiert jedoch zum größten Teil darauf, dass der
Übertragungskanal die Übertragung höherer Frequenzen gestatten würde

Die grüne und die magentafarbige Kurven beziehen sich auf die Kanalkapazität, wenn das System
nur Frequenzen bis zu beispielsweise fband = 500 MHz verwendet. Dann ist der Gewinn an
Kanalkapazität für den 50 Meter langen Kanal näherungsweise vernachlässigbar und für den 100 Meter
langen Kanal nur rund 1 GBit/s, also nur ungefähr 25 Prozent bezogen auf die Kanalkapazität ohne
jegliche Abschwächungsmaßnahme. Bild 12 zeigt das Fremdnahnebensprechen zwischen zwei 100 Meter
langen Kategorie-7-Kabeln. Werte sind für alle Frequenzen besser als 80 dB. Diese Strecke würde
eine Kanalkapazität von über 14 GBit/s liefern. Bei einer Übertragung über vier Paare ließen sich
somit – bei geeigneter Leitungskodierung – über 55 GBit/s übertragen

Schlussfolgerung

Ein räumliches Trennen der Signalkreise würde eine deutlich höhere Kanalkapazität bewirken, wenn
man gleichzeitig die Übertragungsbandbreite der aktiven Komponenten erhöht. Hierfür ist eine
adaptive Leitungskodierung nötig. Ist die maximale Übertragungsbandbreite durch die aktiven
Komponenten festgelegt, so bleibt der Gewinn an Kanalkapazität durch räumliches Auftrennen von
untergeordneter Bedeutung. Als ideale Lösung ließe sich die Leitungskodierung auf die jeweilige
Verkabelung anpassen.

Bei geschirmter Verkabelung ist das Fremdnebensprechen näherungsweise vernachlässigbar.
Spezielle Installationstechniken sind daher bei geschirmter Verkabelung nicht nötig. Möglich sind
maximale Datenraten von mehr als 55 GBit/s über 100 Meter Kupferverkabelung.


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